Der Verlust der Stille - von Stephan Clauss


Die wertvollsten Dinge des Lebens sind unverkäuflich. Sie kosten nichts und sind dennoch schwer zu haben. Eine dieser unbezahlbaren Kostbarkeiten ist die Stille. Und es gäbe keinen Grund, über sie zu reden, wenn nicht auch sie - die Schweigsame, Unscheinbare - im Begriff wäre, uns verlorenzugehen - von einigen betrauert, von vielen nicht einmal vermißt. Dabei ist die Stille nicht einfach nur die Abwesenheit von Lärm, so wie der Frieden sich nicht allein durch das Schweigen der Waffen definiert. Die Stille war so lange Zeit Voraussetzung und Bestandteil menschlicher Kultur, daß eine Gesellschaft, die ihr keinen Platz mehr erlaubt, nicht nur arm und oberflächlich wird, sondern unerträglich.

Um zu begreifen, welche Zumutung der Lärm für seine Opfer bedeutet, braucht man nicht erst die militärischen Tiefflüge zu bemühen. Lärm ist vielmehr so allgegenwärtig geworden, daß es schon einiger Anstrengungen bedarf, sich seinem totalitären Machtanspruch zu entziehen. Immer kleiner werden die Inseln des Schweigens in einer von Medien und Motoren beherrschten Welt.

Selbst Musik gerät zur akustischen Umweltverschmutzung: Supermarktkunden sollen mittels hypnotischer Klänge zu noch mehr Konsum animiert, Wartende in U-BahnStationen sanft sediert werden. Aus den Boutiquen der Fußgängerzonen fällt uns das gleiche Disko-Gedröhne an, das wir im Radio erst abgeschaltet hatten und das der dynamische Nachbar immer gern am Sonntag morgen aufdreht, damit auch alle mithören können.

Noch keine Generation ist mit einer derartigen Dauerbeschallung aufgewachsen wie die Teenager von heute, die sich vor der lärmenden Außenwelt mit der oft nicht weniger lauten Klangkulisse aus dem Walkman abschirmen, unansprechbare Traumwandler unter ihrer Klangkappe. Schwermetalle in der Luft, heavy metal im Kopf; die Welt als Nonstop-Diskothek. Hörschäden werden zur neuen Volkskrankheit.

Viele Menschen haben sogar schon regelrecht Angst vor der Stille: in Situationen, wo ihnen der Lärmteppich unter den Füßen weggezogen ist, reagieren sie verwirrt, unruhig, wie unter Entzugserscheinungen. Sie erleben die plötzliche Ruhe als einen unerwünschten Einbruch in ihre betriebsame Normalität, als einen anachronistischen Widerspruch, den es schleunigst niederzubrüllen gilt; sei es mittels der Lautsprecherboxen oder indem man den Rasenmäher anwirft. Für diese Furcht vor dem Innehalten, der Abwesenheit aller Arten von Aktivitäten, gibt es eine einfache Erklärung: Wer so vollständig aufgeht in der Existenzweise des Lärms, auf den muß ihr lautloses Gegenteil wie eine bedrohliche Leere wirken.

Lärm macht krank. Wer ihm ausgeliefert ist, wird aggressiv oder stumpft ab. (...) Wir sehen, wie der Lärm das soziale Klima vergiftet und manche Zeitgenossen bis zur Weißglut reizt. Andere leiden stumm oder flüchten sich in den Konsum von Tranquilizern und Schlaftabletten; Opfer der Gesellschaft, die auch im Lärm den verdrängten Aggressionen ein Ventil schafft.

Es darf bezweifelt werden, ob technische Verbesserungen und politische Kosmetik an diesen Zuständen viel ändern können. Wieder einmal ist ein Bewußtseinswandel gefragt, Rückbesinnung auf verschüttete Werte. Wer keinen Lärm mehr veranstalten muß, um sich künstlich Mut zu machen für den Existenzkampf, der erkennt vielleicht bald, daß er aus der Stille eine ungleich größere Kraft für den Alltag schöpfen kann.

Nicht nur für den Kranken, der in der Klinik seine Ruhe oft wie einen Luxusartikel bezahlen muß, ist die Stille eine heilsame und befreiende Erfahrung. Die Stille ist kein entbehrlicher Luxus für Alte und Kranke, sondern tragendes Element eines zivilisierten Zusammenlebens. Ohne sie verlernen wir die Kraft des Zuhörens, leidet unsere Wahrnehmung, wird das Denken zur Qual. Wo arbeiten und schlafen nur noch mit Wachs oder Schaumstoff in den Ohren möglich sind, hat der Mensch ein unersetzbares Stück Lebensqualität eingebüßt.



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